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Kultur-Tipp

PROTEST / ARCHITEKTUR

Eine Ausstellung zum Nachdenken über bewegte Zeiten

Vom 16. September 2023 bis zum 14. Januar 2024 zeigt das Deutsche Architekturmuseum im DAM OSTEND zusammen mit dem MAK – Österreichisches Museum für angewandte Kunst aus Wien unter dem Titel 'PROTEST / ARCHITEKTUR. BARRIKADEN, CAMPS, SEKUNDENKLEBER' eine Ausstellung zur Verbindung von Protestkultur und Architektur.

Im Frankfurter Osten wird das ehemalige Telekom-Gebäude zwischen Abriss und Neubau auch vom Architekturmuseum bespielt – solange das Museumsgebäude am Main saniert wird. Vom Eingang in der Henschelstraße geht es nur wenige Stufen hinauf in die Ausstellungsebene. Schon im weitläufigen Vorraum werden dem Publikum Aspekte des Themas nahegebracht. Was in einem Protestcamp gebraucht wird, verdeutlicht eine auf dem Boden ausgebreitete Sammlung von Gegenständen. Sie basiert auf einem Aufruf der Protestierenden aus Lützerath. Ein Modell der Baumhäuser aus Hambach zeigt beispielhaft die in den Bauten steckende fachliche Expertise. Knotentechnik kann an Seilstationen ausprobiert werden. Und wer möchte, kann über eine begehbare, ebenfalls aus Hambach stammende Hängebrücke weiter in die Ausstellung gehen.

Die Geschichte der Barrikaden vom ausgehenden 16. bis ins 19. Jahrhundert begleitet den Weg in den hellen Ausstellungsraum. Dort setzt sich an den Wänden die Chronik der Protestcamps bis in die Gegenwart fort. Durch die aktuelle Berichterstattung sind Nachrichten über laufende Proteste oder Gedenken an zurückliegende Konflikte allgegenwärtig. Doch bei der Betrachtung der Chronik wird deutlich, wie groß die eigene Distanz zu den einzelnen Ereignissen inzwischen ist. Obwohl 2011 die Proteste auch Frankfurt am Main erreicht hatten, spielt 'Occupy Wall Street' keine Rolle mehr. Auch die Proteste beim G20-Gipfel 2017 in Hamburg sind schon weit weg. Der damalige Hamburger Erste Bürgermeister wurde später Vizekanzler und ist gegenwärtig Kanzler der Bundesrepublik Deutschland. Dagegen sind die Proteste gegen die Startbahn West Anfang der achtziger Jahre in Frankfurt am Main im individuellen Gedächtnis haften geblieben. Und der Protest auf dem Majdan in Kyjiw 2013/2014 ist durch die Eskalation des Krieges in der Ukraine in die europäische Gegenwart zurückgekehrt.

Während der Focus in der Ausstellung zunächst auf der Barrikade liegt, einem Bau zur Behinderung der staatlichen Ordnungsmacht, wird mit den Protestcamps die doppelte Funktion von Bauten zum Schutz der Camps oder zur Etablierung von lokalen Gemeinschaften deutlich. Mit der Dauer der Camps entstehen Gesellschaften mit allen kommunalen Funktionen. Restriktionen wie das Verbot von Lautsprechern führen zu kreativen Lösungen wie der Weitergabe von Botschaften durch kollektives Nachsprechen (human microphone). Bekanntmachungen werden an Seilen aufgehängt. Es entstehen lokale Zeitungen, improvisierte Bibliotheken und Mediotheken. In den Versammlungen werden kollektive demokratische Formen der Entscheidung erprobt. Die Präsentation der verschiedenen Grundrisse dieser Gemeinschaften auf Zeit in der Stadt oder im Wald fordern zum Nachdenken über die Existenz von universellen Prinzipien gesellschaftlicher Strukturen heraus.

Inmitten der 'Case Studies' mit Modellen der Camps und Texten, Fotografien bzw. Grafiken schaut eine kleine Sitzgruppe auf eine Projektionsfläche mit einem Tonfilm in Dauerschleife. Der Film schildert Ereignisse und präsentiert Statements der Aktiven von verschiedenen Camps – thematisch geordnet. Die Originaltöne der Filmsequenzen aus den Protestcamps ergänzen die durch den Ausstellungsbau hergestellte Atmosphäre. Lose aufgehängte großformatige Prints, durch den Raum gespannte Seile und die recycelten Elemente der einfachen Bauteile etablieren den Eindruck einer zeitweiligen, aber fachlich versierten Konstruktion.

Entsteht durch diese Mimikry schon eine Nähe zwischen dem gezeigten Gegenstand und der Ausstellung, wird durch die Vorbereitung der Ausstellung das Museum selbst zum Akteur beim Protest vor Ort. Die im Vorfeld für das Museum reklamierten Objekte werden entweder in der Ausstellung gezeigt oder es wird mit einem Modell nur der misslungene Versuch einer Rettung vor der Zerstörung dokumentiert. Auf der Website sind der Film und im Pressebereich detaillierte Informationen zu der Ausstellung zu finden – und der Katalog im kleinen Backstein-Format kann sicher auch bei Protesten nützlich sein. (jk)